Wagnis Waage
- Leni Klakow
- 4. Sept. 2022
- 5 Min. Lesezeit
Wie kann es sein, dass manche Menschen das Glück scheinbar dauerabboniert haben, während andere gefühlt ein Unglück nach dem anderen anziehen? Dass es, wenn etwas schiefgeht, selten bei einem Ausrutscher am Tag bleibt, sondern oft ein filmreifer Pechtag folgt? Dass es Personen gibt, die augenscheinlich fröhlich durch die Welt spazieren und alles schaffen, was sie sich vornehmen, während andere an den vielen Herausforderungen ihres Lebens zu zerbrechen drohen?
Vielleicht kennst du ein paar dieser Fragen. Auch ich habe sie mir schon oft gestellt.
Mir ist durchaus bewusst, dass jeder von uns seine Probleme hat, vor Herausforderungen gestellt wird und dass es viele Menschen gibt, denen es rationell betrachtet deutlich schlechter geht als mir. Dennoch schaue ich manchmal zurück auf meinen Weg, der mit vielen großen Holpersteinen gespickt war, und frage mich, ob ich etwas getan habe, um das zu verdienen.
Doch nein, die Welt ist nicht immer fair.
Unter diesen Bedingungen von einer Waage zu sprechen, die auf der einen Seite all die Herausforderungen, Schwierigkeiten und schlechten Momente, auf der anderen aber schöne Augenblicke, kleine Freuden und all das Gute in unserem Leben aufwiegt, scheint verrückt. Und doch glaube ich, dass sie da ist.
Dass es sie gibt, heißt allerdings nicht, dass sie sich immer im Gleichgewicht befindet. Manchmal im Leben gibt es eine Reihe von Umständen oder Entscheidungen, die die schlechte Seite deutlich stärker belasten. Wer eine schwere Zeit durchmacht, wird sich von der Negativseite vielleicht erdrückt fühlen und kann sich wahrscheinlich nicht vorstellen, dass irgendetwas diese Last jemals ausgleichen kann. In einer solchen Situation hast du vielleicht das Gefühl, dass nur auf der schlechten Seite Gewichte hinzukommen.
Durch beinahe jede Herausforderung kannst du jedoch auch ungeahnte Kräfte in dir entdecken, neue Erkenntnisse gewinnen und in schwierigen Momenten Verhaltensweisen ausprobieren, die dir guttun. Vielleicht schweißt eine große Schwierigkeit die Familie oder eine Freundesgruppe enger zusammen. Vielleicht erkennst du, wer deine wahren Freunde sind. Vielleicht gewinnst du dabei an Stärke.
All das macht Schlimmes nicht weniger schlimm und kann nicht in jeder Situation ein Trost sein. Manche Dinge im Leben sind schrecklich und es gibt keine Beschönigung oder Erklärung für sie. Aber daneben existiert auch immer noch etwas anderes. Das ist das, was ich hier sagen möchte. Jedoch auch, dass es wichtig ist, die negativen Gedanken und Gefühle zuzulassen und gegebenenfalls zu trauern oder wütend zu sein.
Für mich hatte es nach schweren Momenten etwas Tröstliches zu wissen, und vielleicht kann das auch dich ermutigen, dass die Waage nicht nur eine Seite hat. Irgendwo gibt es die positive Waagschale auch dann, wenn dir gerade alles furchtbar und schwer und wie ein Riesenberg erscheint. Wenn du es zulässt, werden auch auf dieser Seite wieder neue Erlebnisse auf dich warten und vielleicht wirst du entdecken, dass es da viel mehr gibt, als du dachtest.
Das können großartige Menschen sein. Familienmitglieder; Freunde; ein freundlicher, hilfsbereiter Nachbar oder eine Lehrerin, die immer ein offenes Ohr für dich hat. Das kann ein Hobby sein, das dich begeistert oder das Haustier, welches dich braucht und tröstet; der Kaffee am Morgen auf dem Balkon; die nette Bäckerin, die dir jeden Morgen ein warmes Brötchen mit einem Lächeln reicht.
Diese und tausend andere schöne Kleinigkeiten können dir dabei helfen, nicht den Halt zu verlieren.
Wenn du dir die Zeit nimmst, intensiv darüber nachzudenken, werden dir sicher so manche Gewichte auf der guten Seite einfallen. Und selbst wenn es in einem Moment noch nicht so viele sind oder das Gleichgewicht von Situation zu Situation schwankt, was sein darf, gibt es beide Seiten.
Für mich waren meine Familie, die mir Rückhalt gab, mich immer wieder auffing und verstand, und Freunde, die für mich da waren und zu mir hielten, ohne dass ich etwas erklären oder rechtfertigen musste, oft wie ein Anker in der Brandung.
Doch selbst mit diesen Ankerpunkten verbinde ich nicht nur positive Gefühle. In Situationen, die ich früher bedingungslos genießen konnte, fühle ich mich inzwischen oft überfordert und es wird mir leider schneller alles zu viel. Trotzdem weiß ich zu jeder Zeit die grenzenlose Liebe, das Vertrauen, die Geduld und die Stärke meiner Familie hinter mir und kann mich darauf verlassen. Das bleibt so, auch wenn ich es in einem Moment nicht so intensiv wahrnehmen kann.
Ich will damit sagen, dass selbst die schönen Dinge beide Seiten in sich vereinen und nicht immer nur positiv sind. Das können und müssen sie auch gar nicht. Genauso wenig sind schwierige Momente nur schlecht. Schatten und Licht sind miteinander verbunden. Du wirst das Licht nur sehen, wenn du auch den Schatten kennst. Und um es nicht als Selbstverständlichkeit hinzunehmen, müssen deine Augen und dein Herz dafür offen sein.
Mehr noch, du kannst nicht nur als stummer Beobachter deine Perspektive ändern, sondern sogar selbst aktiv werden. Wenn an einem grauen Regentag weit und breit keine Sonne am Himmel zu sehen ist, lässt sich daran erst einmal nichts ändern. Aber du kannst eine Lampe anschalten, selbst Licht in die Dunkelheit bringen und aus diesem Tag das Beste machen. Du hast fast immer die Möglichkeit, etwas Gutes zu tun, statt darauf zu warten, dass dies von außen geschieht. Die schlechten Dinge passieren sowieso ganz von allein, dafür musst du nichts tun. Aber du kannst versuchen, schöne Momente einzufangen und damit dein eigenes Gleichgewicht schaffen.
Vor einiger Zeit gab es eine Situation, in der es mir echt schlecht ging und ich fast „die Kontrolle verlor“. Ich ärgerte mich, dass mich ein kleines Gespräch so dermaßen aus der Fassung bringen und all meine Pläne durcheinanderwirbeln konnte.
Der erste Impuls war, dem Gefühl nachzugeben, mich zu bestrafen und mir damit noch mehr wehzutun. Aber dann wurde mir bewusst, dass ich für diesen Tag eigentlich genug Unangenehmes erlebt hatte und ich dachte darüber nach, was mir jetzt guttun könnte. Ich ging das Alphabet durch und überlegte mir zu jedem Buchstaben etwas, das mich zum Lächeln bringt. Mir fielen Dinge wie dieser Blog, meine Familie, Freunde, Musik und Musical ein und mir wurde wieder bewusst, dass es neben den unangenehmen Gefühlen ganz viele andere gibt.
Die Frage „Was brauche ich gerade?“ ist inzwischen zu einem treuen Begleiter geworden und hilft mir besonders nach schwierigen Momenten, meine innere Waage wieder ins Gleichgewicht zu bringen.
Denn ja, es ist so. Es passieren leider schlimme Dinge auf der Welt, es gibt Tage, an denen wir uns grundlos schlecht fühlen und Tage, an denen scheinbar alles schiefgeht. Egal, wie gut du dein Leben planst, es kann stets anders kommen.
Du hast jedoch zwei Möglichkeiten, damit umzugehen. So kannst du dich darüber ärgern und dich damit selbst bestrafen. Dann kommt die Waage noch mehr ins Ungleichgewicht, da die Negativseite sowieso schon stärker belastet ist. Oder du akzeptierst, dass die Situation doof war und überlegst, was du dir Gutes tun kannst, um die Waage wieder etwas weiter in eine Balance zu bringen.
Wie wäre es mit einer Gesichtsmaske oder einem Entspannungsbad? Vielleicht tut es dir gut, dein Lieblingsbuch zu lesen, dich in eine warme Decke zu kuscheln, Sport zu machen oder irgendetwas Schönes zu tun, das dir ein bisschen Freude bereitet. Versuche darauf zu achten und in dich hineinzuhören, was dir genau jetzt guttun könnte, und nimm die Veränderung selbst in die Hand. Kurzum: Lass dich auf die Waage ein und wage es, schöne Momente für DEIN Gleichgewicht zu schaffen und festzuhalten.

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